Frankfurter Buchmesse 2023 Gastland Slowenien Literaturbahnhof im Haus des Buches, Frankfurt Braubachstrasse 16

Mittwoch, 18. Oktober, 17.15 – 18.00 Uhr

Goran Vojnovic „18 km bis Ljubljana“

Das Leben ist ein Sonntagnachmittag, wie Radovan sagen würde. Lang und langweilig, und nimmt ein schlimmes Ende.“

Widerwillig kehrt Marko in seine alte Heimat zurück. In Fužine, dem Vorort von Ljubljana, ist nichts mehr so, wie es war. Die Leute hängen nicht mehr in Trainingsanzügen vor dem Block ab. Die Jugendlichen beschmieren keine Aufzüge mehr und sehen jetzt aus wie brave Geklonte. Er gehört nicht mehr hierher und fühlt sich wie ein Außerirdischer. Seine Freunde sind Junkies oder zum Islam konvertiert, sein Vater hat einen Tumor und tut so, als ginge ihm das am Arsch vorbei. Nach zehn Jahren in der bosnischen Provinz bei Oma und Opa und nach einer unglücklichen Liebe zu einer abgefahrenen Muslimin versucht er dort, wo er nie zu Hause war, seinen Platz zu finden.

Ein Roman, in dem sich Lachen und Tränen mischen

„Heute weiß ich: wenn ein Staat aufhört zu existieren, landet er im Raum der Erinnerungen, in der Literatur. Nur in den Erinnerungen, in der Literatur kann Jugoslawien zugleich der Name für die erste Liebe und den Genozid sein, für Lieder und für Dekrete, für Krieg und Frieden und wieder – oder noch immer – Krieg. Deshalb nenne ich mein Vaterland nicht mehr Jugoslawien. Deshalb hat mein Vaterland keinen Namen mehr.“ (Goran Vojnovic)

 

Samira Kentrić „Balkanalien“


Diese unter die Haut gehende Graphic Novel beschreibt die Lebensgeschichte der Autorin. Sie ist in einer Zeit aufgewachsen, in der sich die Landkarte am südöstlichen Rand Europa dramatisch veränderte. Ihre muslimischen Eltern sind von Bosnien ins katholische Slowenien gezogen. Als Samira Kentric 15 Jahre alt ist, bricht Jugoslawien auseinander und sie gerät in die kriegerischen Auseinandersetzungen des Bosnienkrieges. Sie sucht ihren Platz in den vom nationalistischen Wahn zerfallenen Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawiens und wünscht sich nichts mehr als ein Leben in Freiheit.

Neben der sehr verdichteten Sprache transportieren die Bilder der Graphic Novel sehr bewegend und zum Teil auch bestürzend, wie das Individuum in das Spannungsfeld von sozialen Ungerechtigkeiten, religiösen sowie politischen Konflikten hineingezogen wird. Dabei gibt die Autorin ihre Ideale auch um den Preis der Entwurzelung eines jeden Menschen nicht auf, denn „die Welt befindet sich stets in Migration.“

 

Donnerstag, 19. Oktober, 17.15 – 18.00 Uhr

Andrej Blatnik „Platz der Befreiung“– Der Charme der Resignation:

Eine Weile haben Feuilletons gern die Frage erörtert, ob es nach der berühmten 68er Generation auch so etwas wie eine 89er Generation gegeben hat. Es kam nichts dabei heraus. Mit dem Roman des slowenischen Schriftstellers Andrej Blatnik ist der Streit entschieden: Die 89er, es gab sie doch.

Er trifft sie auf dem Kongressplatz, sie gehen auf ein Eis. Richtig zusammen kommen sie nicht. Ihre Eltern haben Geld, und zwar schon im Sozialismus; Papa hatte immer den richtigen Riecher und wird von der Tochter dafür gebührend verachtet. Er stammt aus einer sozialhybriden Verbindung, wie sie für die besseren Jahre Jugoslawiens typisch war: Mutter enteignetes Bürgertum, Vater vom Lande. Beide, er und sie, wohnen erst noch zu Hause. Dann verdrücken sich ihre Eltern irgendwann standesgemäß nach Dubai, und seine sterben kurz nacheinander, schnell und geräuschlos. Er und sie treffen sich immer wieder mal, zufällig, sind sich nahe und tauschen ihre Erfahrungen aus. Gleich was sie erleben: Er, der es vor der „Unabhängigkeit“ fast zum Literaturkritiker gebracht hat, schlägt sich danach als Werbetexter durch. Sie macht Yoga in Goa. Aber wenn sie sich treffen, verstehen sich immer wieder blind. „Die Erlangung der staatlichen Selbstständigkeit“, Slowenien 1991, „begann mit der Selbstständigkeit des Geistes, nicht des Geldes“, sagt er. So redet er oft, mit sich, mit ihr, assoziiert dabei – in kursiver Schrift – was ihm sonst noch so einfiele, wenn er ehrlich wäre.

Mojca Kumerdej „Unter die Oberfläche“

Mojca Kumerdej, geb. 1964, ist Autorin, Philosophin und Journalistin. Nach ihrem Studium der Philosophie und Kultursoziologie an der Universität von Ljubljana debütierte sie mit ihrem parodistischen Roman »Krst nad Triglavom«. Darauf folgten zwei Bände mit Erzählungen, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden und in denen sie die Innenwelt ihrer Figuren an die Oberfläche bringt:

Unter den Oberflächen lauern mitunter dunkle, beängstigende Dinge – wie etwa bei der Frau, die nach außen hin den Schein der ihre kleine Tochter liebenden Mutter aufrechterhält, sich im Innern aber nach ihrem selbstbestimmteren Leben vor der Geburt zurücksehnt und dann nicht einschreitet, als sich eine Katastrophe anbahnt. Oder bei der Frau, die nur dann selbst glücklich sein kann, wenn es ihrer Freundin schlecht geht.

Mit feinem psychologischen Gespür schildert Moika Kumerdej die Innenwelt ihrer Figuren, die Beweggründe für ihr Verhalten – auch wenn das Bewusstsein einen Sitz mitunter schon nicht mehr in einem Körper hat, sondern sich dieses in einer frisch transplantierten Leber zu befinden scheint. In ihren brillant geschriebenen Erzählungen offenbart sie uns die Schrecken und Träume ihrer Figuren, die sie auch immer mit intelligentem Humor begleitet.

Lesung aus den deutschen Übersetzungen an beiden Tagen: Jochen Nix

Moderation: Daniella Baumeister (hr2 Kultur)

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